Jammertal
Als ich gestern aufstand und eher zufällig in den Spiegel
blickte, ekelte ich mich vor mir selber, denn mich starrte
ein selbstmitleidiger Jammerlappen an.
Es mag sein, dass die letzten Tage nicht gut zu mir waren,
angefangen mit dieser sinnlosen Schlägerei (21.05.04),
die eine Not-OP (26.05.04)
zur Folge hatte, durch die ich eine Niere verlor. Aber war
das heute noch ein Grund, um zu jammern? Immerhin war ich
am Leben und eine gesunde Niere war gar nicht so schlecht,
eigentlich hatte sich mein Leben doch gar nicht geändert.
Warum mich die Geschichte mit Julia (08.07.04)
so berührte, konnte ich mir selber nicht erklären.
Wenn man es objektiv betrachtet, dann hatte ich mich doch
von ihr getrennt (05.04.04)
und nicht andersherum. Nicht sie war die blöde Kuh, sondern
ich hatte mich wie ein Arschloch (06.04.04)
aufgeführt.
Über das unangenehme Intermezzo 'Magen-Darm-Infektion'
(14.07.04) zu klagen, wäre
geradezu lächerlich. Okay, ich fühlte mich beschissen,
aber so etwas kommt vor. Aber ich hatte es ohne nachhaltige
Folgen überstanden.
'Warum also jammern?', rief ich lauthals, lachte mein deprimierendes
Spiegelbild aus und verpaßte ihm dann einen rechten
Haken mitten auf die Nase. Der Spiegel zerbrach klirrend,
fiel aber nicht auseinander, sondern reflektierte weiterhin
mein Abbild. Jetzt allerdings durch die zahlreichen Brüche
im Glas lächerlich entstellt, doch erst jetzt erkannte
ich mich.
Ich ging ins Wohnzimmer, um mir den Tag anzusehen. Der Blick
aus dem Fenster war trostlos und weckte Assoziationen an den
November. Eigentlich war's mir egal. Aber ich würde dem
Herrn Kachelmann trotzdem auf die Schnauze hauen, würde
er mir je unter die Augen kommen. Schon alleine wegen seines
lächerlichen Barts.
Während ich mir einen Kaffee kochte rieb sich mein treuer
Freund Bruce an meinen
Beinen. Die kleine Töle war einfach nur da, schlich um
mich rum, und trotzdem war ich ergriffen über soviel
Zuneigung. Ich streichelte ihn und tollte mit ihm herum. Noch
bevor ich meine erste Tasse Kaffee trank, gab ich Bruce
etwas zu Fressen und ging dann mit ihm Gassi. Dabei beeindruckte
mich der Regen, der unaufhörlich meine Kleidung durchweichte,
überhaupt nicht. Ich freute mich auf den heißen
Kaffee, der beim Betreten meiner Wohnung auf mich warten würde.
Ich freute mich auf all die Möglichkeiten, die dieser
Tag noch bieten würde. Es waren undenkbar viele. Ich
könnte heute noch alles tun und mir könnte heute
noch alles widerfahren. Und wenn das Glück mich nicht
heute finden würde, dann vielleicht morgen. Oder übermorgen.
Ich hatte mein Blatt längst noch nicht ausgereizt. Meine
Zeit würde kommen.
Beflügelt von meinen Gedanken rief ich Walter
an.
'Ja?', knurrte mir ein missgelaunter Walter
entgegen, den ich ganz offenbar geweckte hatte.
'Lass uns heute etwas anstellen! Lass uns die Welt erschüttern!'
'Hank? Bist Du es? Natürlich bist Du es! Verrücktes
Arschloch! Sag mal, weißt Du eigentlich wie spät
es ist? Ich sag es Dir, es ist zu fruh! Zu früh zum Telefonieren.
Zu früh für Welteroberungspläne! Und vor allem
ist es zu früh dafür, betrunken zu sein! Ich hoffe
Du bist betrunken, denn das wäre eine Erklärung.
Du verdammtes Arschloch! Was ist mit Dir los?'
'Hab ich Dich geweckt? Tut mir leid, das wollte ich nicht!'
'Halt bitte die Fresse! Ob Du mich geweckt hast? Mann, es
ist 5:37 Uhr! Natürlich hast Du mich geweckt. Und Du
gehst mir momentan tierisch auf die Eier! Lass uns später
noch mal quatschen. Dann habe ich vielleicht vergessen, dass
ich Dich töten will!'
Walter legte auf.
Ich war wieder alleine mit Bruce,
dem Telefon und mir. Ich überlegte, ob ich Cris,
Caro, Bob
oder irgendjemand anderen anrufen sollte. Vielleicht Julia
oder Samira. Aber
was sollte das bringen?
Walter hatte Recht,
es war einfach zu früh. Um diese Uhrzeit konnte man die
Welt noch nicht erobern, man musste sie erst wecken. Aber
dann würde man riskieren, dass sie einen unausgeschlafen,
missmutig und hässlich begrüßen würde.
Dazu fehlte mir der Mut. Ich legte mich wieder ins Bett...
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