Lethargie
In den letzten Tagen hatte ich mich rar gemacht. Ich fühlte
mich unleidlich. Alles war mir zu viel. Ich war mir zuviel.
Ich brauchte Zeit, Raum und Ruhe. Um meinen Gedanken nachzugehen
und um in meinem eigenen Saft zu schmoren.
Wenn ich morgens aufwachte, fühlte ich mich matt und
gar nicht ausgeschlafen. Mir fiehl kein zwingender Grund ein,
mein warmes Bett zu verlassen. Trotzdem schälte ich mich
aus den Kissen und schleppte meine müden Knochen in die
Küche, um mir Kaffe zu kochen. Diesem Ritual konnte ich
nicht entkommen, außerdem gab es keine Alternative.
Wie sollte ich sonst meine Lebensgeister aktivieren? Koks
war einfach zu teuer, außerdem hält sich das Gerücht,
dass es auf Dauer noch ungesünder sei als Koffein.
Während ich kaffeetrinkend und rauchend auf dem Sofa
saß, starrte ich in den Raum, aber eigentlich ins Nichts.
Ein Tag war wie der andere und alle waren sie leer. Ich dachte
über die Notoperation
nach und fühlte mich steinalt und wie ein Krüppel.
Mir fehlte eine Niere. Das war nicht zu vergleichen mit einem
schnöden Schnupfen oder einem blauen Daumennagel. Das
war irgendwie beängstigend ernsthaft. Dazu fiel mir auch
kein Witz ein. Ich war nur noch ein halber Mensch.
Ein Tag hat 24 Stunden. 'Immer! Und überall!', würde
Professor Dr.
Dr. Dr. Augustus van Dusen wahrscheinlich sagen. Aber
Zeit ist eben auch relativ.
Sie kann sehr lang werden, wenn man nicht weiß, was
man mit ihr anstellen soll bzw. was man mit sich anstellen
soll. Ich kam auf die groteskesten Ideen, um die Langeweile
zu vertreiben. Als erstes räumte ich meine Wohnung auf.
Natürlich das große Programm mit Fenster putzen,
Türen Schränke und Regale abwaschen und Kaffeemaschine
entkalken. Nach der Durchsicht und Kategorisierung meiner
Zeitungen, Zeitschriften und Magazine stieg ich hinab in den
Keller und sah die ganzen Kartons durch, die ich einmal mit
der festen Absicht gepackt hatte, dass sie erst wieder in
1000 Jahren von Archäologen geöffnet werden würden.
Während ich mich damit ablenkte, meiner kleinen Welt
(irgend)eine Ordnung zu verleihen, schrillte das Telefon und
störte mich in meinem autistischen Aktivismus. Ich dachte
gerade darüber nach, ob man selber eigentlich merkt,
dass man wahnsinnig wird. Wahrscheinlich nicht. Eigentlich
tröstlich, dachte ich und schaltete mein Hirn in den
Leerlauf. Es war so einfach. Die Kartons trugen Namen. Ich
brauchte sie nur entsprechend zu befüllen und dann zu
stapeln. Und eigentlich spielte das alles auch gar keine Rolle,
gab mir aber ein Gefühl von Sicherheit. Nun wurde ich
gestört. Das Telefon klingelte unüberhörbar.
Ich ärgerte mich über mich, weil ich es überhaupt
mitgenommen hatte. Ich sah es an und weigerte mich abzunehmen,
aber ich war nicht stark genug. Meine Neugier war mir peinlich,
aber ich wollte wissen, wer der Anrufer war. Ich nahm ab.
'Ja?'
'Ja!'
Ich schwieg und wartete ab. Aber ich konnte nichts hören.
Je länger das Schweigen anhielt, desto unsicherer wurde
ich. Wer war am anderen Ende? Man ruft doch niemanden an,
um zu schweigen. Es sei denn, man ist ein perverser Telefon-Terrorist.
Es blieb still. Ich merkte, wie in mir langsam Ungeduld und
Ärger aufstieg. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus.
'Ja! Hi! Was gibt's?'
'Ich verlasse Deutschland!'
'Was? Ich meine, warum?'
'Na ja...'
Die Stimme verstummte wieder. Es war eindeutig eine weibliche
Stimme und sie hatte meine uneingeschränkte Aufmerksamkeit.
Ich versuchte der Stimme ein Gesicht zuzuordnen, aber es gelang
mir nicht.
'...ich brauche einen Tapetenwechsel! Außerdem ist
es eine echte Chance für mich.'
'Dann mach es!', erwiderte ich. Mein Hirn schlug Purzelbäume,
bis in mir das Gesicht von Julia aus einem Nebel von Unwissenheit
aufstieg.
'Julia?'
'Ja?'
Jetzt hatte ich Gewissheit! Julia war die unerwartete Gesprächspartnerin.
Meine Knie wurden schlagartig weich und in meinem Magen begann
ein Boxkampf. Ich nahm irritiert zur Kenntnis, dass Julias
Stimme bei mir noch immer solch starke körperliche Reaktionen
verursachte. Ich holte mir ihr Bild zurück ins Gedächtnis
und erinnerte mich daran, dass ich immer eine Erektion bekam,
wenn ich weniger als einen Meter in ihrer Nähe war. Diesmal
reichte schon die Erinnerung.
'Irgendwie klingst Du komisch. Es hallt so.'
'Ach das. Ich bin gerade im Keller, sau ungemütlich.
Sag mal, kannst Du mich noch mal in etwa zwei Minuten anrufen?
Dann schließ ich hier eben ab und geh hoch in meine
Wohnung.'
'Gar kein Problem. Bis gleich!'
In der Leitung machte es Klick. Ich sperrte meinen Verschlag
zu und stieg die Treppen hoch zu meiner Wohnung. Als ich gerade
die Wohnungstür aufschloss, klingelte auch schon wieder
das Telefon.
'Hank am Rohr!'
'Weiß ich doch!', kicherte Julia.
'Es tut mir leid, ich habe Dir anfangs wohl nicht richtig
zu gehört. Ich stecke gerade in einer sinnentleerten
Aufräumaktion. Aber jetzt gilt Dir meine ganze Aufmerksamkeit.'
'Du bist ja so selbstlos, mein Held. Aber ich würde
ja darauf wetten, dass Du Dir erst noch einen Kaffee machst
und Dir Deine Marlboro holst.'
'Du bist ätzend. Ich spüre zwar, dass Du mit mir
reden willst, aber sag mir einen Grund, warum ich mit Dir
reden sollte? Du machst mich grundlos an und ich weiß
nicht warum.'
'Mann oder Memme?'
'Du kennst die Antwort!'
Schweigen. Ich vernahm durch den Telefonlautsprecher schweres
Atmen. Ich ging in die Küche und schenkte mir aus eine
Tasse frisch aufgebrühten Kaffee ein. Noch immer Schweigen.
Ich ging zurück ins Wohnzimmer.
'Du hast Dir tatsächlich einen Kaffee gemacht.'
'Ja! Und zwar mit einer gerade entkalkten Maschine.'
'Ist er jetzt noch besser? Du machst wirklich guten Kaffee.'
'Danke!'
'Dein Kaffee war immer irgendwie mehr als nur Kaffee. Keine
Ahnung warum oder was es war. Aber Dein Kaffee erinnerte mich
immer daran, wie es als Kind war, wenn man im Winter heiße
Schokolade trank.'
Julia machte wieder eine Pause und über den Hörer
klang es, als ob sie gegen die Tränen ankämpfte.
'Ich verlasse Dich!'
Julias Worte hämmerten sich in mein Hirn, wie mit einer
alten mechanischen Schreibmaschine getippt. Ich spürte
jeden einzelnen Buchstaben auf meiner Großhirnrinde.
I C H V E R L A S S
E D I C H
Die drei Worte hallten in mir und ich verstand gar nichts
mehr. Julia hatte sich ja bereits von mir getrennt. Trotzdem
verspürte ich einen Stich in der Brust, der mir die Luft
nahm und mich lähmte. Gleichzeitig spürte ich, wie
sich meine Nackenmuskulatur verspannte und sich ein hämmernder
Schmerz in mein Hirn schlich.
'Es geht so nicht mehr weiter!'
'Julia, was geht so nicht mehr weiter? Wir sind seit April
nicht mehr zusammen. Du erinnerst Dich?'
'Es macht einfach alles keinen Sinn mehr!'
'Was macht keinen Sinn?'
'Alles!'
'Du machst mir Angst! Was macht keinen Sinn mehr?'
'Alles! Nichts! Ich weiß es nicht. Ich weiß es
wirklich nicht!', sie schluchzte. 'Und deshalb habe ich den
Job in Amerika angenommen. Ich bin jetzt erstmal weg. Keine
Ahnung was die Zeit bringt. Ich weiß nur, dass sich
was ändern muss. Du weißt, wie sehr ich Amerika
hasse!'
'Ja, ich weiß. Aber eigentlich hasst Du ja gar nicht
das Land, sondern nur die ungebildeten Einwohner.'
'Und was glaubst Du, mit was ich es Tag täglich zu tun
haben werde, dem Grand Canyon oder mit Menschen?'
'Warum bist Du so sauer auf mich? Warum machst Du den Job,
wenn es Dich so aufregt?'
'Weil es hier einfach nicht weitergeht! Mein Job ist eine
Sackgasse und Du bist es auch! Amerika ist vielleicht eine
Chance.'
Ihre Worte trafen mich unvorbereitet hart. Mein Kopf drohte
zu explodieren und ich fing an zu schwitzen.
'Was soll ich sagen?', ich rang um Worte, in mir kochte das
Chaos.
'Du brauchst gar nichts sagen. Jetzt nicht mehr!'
'Du bist so hart!'
'Ich muss hart sein. Ich muss endlich auch mal an mich denken!
Ich mache jetzt diesen Job. Mal sehen wofür es gut ist
und wohin es mich bringt. Ende 2005 komme ich wieder. Mal
sehen, wie die Welt dann aussieht.'
Ich sagte nichts mehr, sondern legte auf. Ich dachte an Sylvester
2005, vielleicht hätten wir dann eine Chance.
'Mal sehen, wie die Welt dann aussieht.', echote es in meinem
Kopf, während ich mich wieder daran machte, Ordnung in
meine Wohnung zu bringen. Ich verspürte quälende
Kopfschmerzen und fühlte mich unsagbar müde. Ich
nahm mir vor, morgen nicht aufzustehen und auch nicht ans
Telefon zu gehen.
|