Nebel
"Wissen wäre fatal. Die Ungewissheit ist es, die
uns reizt. Ein Nebel macht die Dinge wunderschön."
[Oscar Wilde]
Schon seit Wochen schob ich einen unangenehmen, aber unausweichlichen,
weil notwendigen, Termin vor mir her. Einmal im Jahr musste
ich mich einer umfangreichen und unangenehmen ärztlichen
Untersuchung unterziehen. Ärzte können durchaus
nette Menschen sein, ich kenne solche, aber trotzdem mache
ich, wann immer einen großen Bogen um diesen Berufsstand.
Meine Philosophie ist ganz einfach, auch wenn sie unglaublich
naiv und sträflich kurzsichtig ist, aber solange mir
kein Arzt sagt, dass ich krank bin, bin ich gesund.
Es gibt allerdings gewisse Umstände, die den Besuch
eines Arztes unausweichlich machen. Kleinere Wunden verpflastere
ich selbst, aber einen Knochenbruch oder eine Schussverletzung
lasse ich dann doch lieber von einem ausgebildeten Experten
behandeln. Auch muss ich zugeben, dass ich nicht im Stande
bin, chemische Analysen und pathologische Untersuchungen vorzunehmen.
Und genau deshalb ist es leider notwendig, dass ich mich
einmal pro Jahr einer fachkundigen und intensiven Untersuchung
unterziehen muss. Ich habe eine recht seltsame Allergie, die
mich dazu zwingt, ein Medikament regelmäßig zu
mir zu nehmen, dessen Nebenwirkungen sich auf meine Sehfähigkeit
auswirken könnten.
Einmal im Jahr war es angeraten, sich über den Zustand
meiner Augen und die möglicherweise auftretenden Auswirkungen
der medikamentösen Behandlung Gewissheit zu verschaffen..
Dafür waren zahlreiche aufwendige Untersuchungen nötig,
die kein normaler Augenarzt, sondern nur die Uni-Klink durchführen
konnte.
Ich mochte keine Menschen in weißen Kitteln und ich
mochte keine Krankenhäuser, deshalb erfand ich immer
wieder neue Ausreden, um mich vor der klinischen Untersuchung
zu drücken.
Mir war die Prozedur hinlänglich bekannt. Ich hatte
sie schon mehrmals über mich ergehen lassen. Ich wusste
ganz genau, was mir bevorstand und genau deshalb zögerte
ich es immer wieder heraus. Aber um ehrlich zu sein, schlussendlich
läuft es immer wieder auf die schlichte Frage hinaus:
'Mann oder Memme?'
Ich ging ins Klinikum und stellte mich all der quälenden
Untersuchungen. Ich ließ mir Tollkirsche
(Atropin) direkt
ins Auge träufeln, was die Pupillen weitet. Ich versuchte
möglichst nicht zu blinzeln, als Elektronen auf meinen
Pupillen angebracht wurden. Ich saß geduldig eine kleine
Ewigkeit in einem schwarzen Raum, nur um mich danach von einem
furchtbaren Blitzgewitter malträtieren zu lassen. Lichtblitze
brachen über mich herein und ich hatte Angst, entweder
einen epileptischen Anfall zu kriegen oder Wahnsinnig zu werden.
Die Untersuchungen dehnten sich über einen halben Tag
aus. Am Ende fühlte ich mich wie ein Zombie. Ich sah
auch so aus. Ich war bleich wie ein Toter und meine Pupillen
waren vom Atropin
so sehr geweitet, dass meine Iris nicht mehr zu erkennen war,
statt dessen war meine Pupille schwarz, was meinen Augen einen
unnatürlichen und unheimlichen Ausdruck verlieh.
Das Gift der Tollkirsche
bewirkte nicht nur, dass meine Augen Horrorfilm tauglich entstellt
waren, sondern auch, dass mir der Durchblick fehlte. Vor meine
Augen schob sich ein milchiger Nebel, durch den ich keinen
klaren Blick mehr auf die Welt bekam. Ha! Als ob ich den je
gehabt hätte!
Vor meinen Augen verschwammen die Konturen. Die Welt verlor
an Kontrast und Tiefenschärfe. Ich war umgeben von einem
matschigen bunten Brei, in dem ich, wie in einem Sumpf, versank.
Ich verlor mich im Nebel.
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