Über den Dächern von Köln
"Aus der Trivialität der Existenz können
wir nicht durch die Türen entkommen, sondern über
die Dächer." [Nicolás Gomez Dávila]
Das Leben kann manchmal so leicht sein, dass man alles vergisst
und sich in dem Moment verliert. Gestern war so ein Tag, da
war das Leben leicht, unbeschwert, anregend und sexy. Das
war Gestern. Heute sah die Welt schon wieder ganz anders aus.
Es waren zwar noch nicht mal acht Stunden vergangen, als ich
aufwachte, aber ich hatte über Nacht eine eingreifende
Metamorphose vollzogen. Gestern war ich noch ein Partybär,
der witzig, geistreich und charmant sein konnte. Heute war
ich wieder nur ein Wrack mit tiefblauen Ringen unter den Augen,
das sich wie ein Zombie fühlte: nicht lebendig, aber
existent.
Ich freute mich schon seit über einer Woche auf die
Geburtstagsparty - Schrägstrich - Einweihungsparty von
Alexandra (01.12.03).
Ich mochte Alexandra sehr, aber noch mehr mochte ich ihre
Partys. Ein ähnliches Desaster wie bei Lynn's Party (04.09.2004)
konnte ich, nach meinen bisherigen Erfahrungen, kategorisch
ausschließen, denn bisher hatte ich auf Alexandras Veranstaltungen
immer interessante Gesprächspartner kennen gelernt. In
mir kribbelte die sehnsuchtsvolle Erwartung auf einen anregenden
Abend, mit verheißungsvollen Möglichkeiten und
unvorhersehbaren Überraschungen.
Der Abend begann direkt mit einer sehr angenehmen Überraschung,
denn mein Freund Walter
bot sich als Chauffeur an. Eigentlich hatten wir geplant mit
'Der Bahn' zu Alexandra nach Köln zu fahren, aber Walter
fühlte sich unleidlich und hatte keinen Sinn für
die Unannehmlichkeiten, die eine Reise mit den öffentlichen
Verkehrsmitteln bot. So kam es, dass ich äußerst
komfortabel auf dem ledernden Beifahrersitz von Walters
Limousine saß, ein süffiges Fahrtbier trank und
mit stimmiger musikalischer Unterhaltung direkt vor Alexandras
Haustür befördert wurde.
Alexandras Dachgeschoßwohnung war der wahrgewordene
Traum eines jeden Yuppies. (Frage: Ist der Begriff 'Yuppie'
noch zeitgemäß? Wahrscheinlich nicht, oder? 'Yuppie'
ist einer dieser hippen Kunstwörter, das fest in den
90er verwurzelt ist. Wer mehr über die Yuppies der 90er
Jahre wissen möchte, sollte umgehend Bret Easton Ellis
'American Psycho' lesen.)
Die Wohnung war bombastisch. Sie verlief über zwei Ebenen,
war himmlisch aufgeteilt und stylish eingerichtet. Als erstes
fielen mir die hohen Decken und die Holzdielen auf. Ein Highlight
unter vielen war die Dachterrasse über den Dächern
von Köln, auf der man ohne weiters einen Biergarten mit
Blick auf den Dom hätte betreiben können.
Ich dachte an meine eigene Wohnung und schlagartig fühlte
ich mich niedergeschlagen. Meine Wohnung war alles andere
als schlecht und eigentlich fühlte ich mich in ihr auch
sehr wohl, aber im direkten Vergleich unterlag sie gegen diese
hier um Lichtjahre. In mir stieg eine seltsame Unruhe auf.
Ich hörte intensiv in mich rein. Mein erster Verdacht
war, dass es sich bei meinem beklemmenden Gefühl um Neid
handeln könnte. Aber nein, das war es nicht. Ich war
kein neidischer Charakter. Ich gehörte zu den Menschen,
die sich über das Glück anderer Menschen selbstlos
freuen konnte. Und obwohl ich ein so unerträglicher Gutmensch
war, wurde meine Gefühlswelt beim ersten Anblick dieser
Wohnung, die scheinbar aus dem Magazin 'Besser wohnen' entsprungen
war, massiv erschüttert. Dann erkannte ich es, es war
gar nicht die Wohnung, sondern das, was sie aussagte. Zwei
einzelne Individuen waren zu einer Einheit verschmolzen, die
für die Ewigkeit geschlossen wurde. Dies war nicht Alexandras
Wohnung, dies war die Wohnung von Alexandra und Tim. Das tobende
Unwohlsein in meiner Körpermitte war nicht Neid, es war
Sehnsucht. Sehnsucht nach einer Frau, die für mich die
Welt bedeutet und für die ich die Welt bedeute.
Als Alexandra lachend auf mich zukam, mich herzte und mir
ein frisch gezapftes Kölsch
in die Hand drückte, wurde ich aus meinen Gedanken gerissen.
Sie sah bezaubernd aus und sprühte vor guter Laune. Ihre
Natürlichkeit schaffte es immer wieder, mich zu verzaubern
und mir ein wohlig warmes Gefühl zu geben. Wir stießen
an und wechselten zwei Sätze miteinander und dann entschwand
sie schon wieder zum nächsten Gast. Ich blickte ihr einen
kurzen Augenblick hinterher und dachte wieder daran, dass
mir, um so eine Wohnung mit Leben füllen zu können
die richtige Partnerin fehlte. Doch diesmal beflügelte
mich der Gedanke. Ich warf einen Blick auf die schon anwesenden
Gästen und über mein Gesicht huschte ein verschmitztes
Lächeln, denn ich registrierte wesentlich mehr Frauen
als Männer.
Ich trank mein Glas hastig in einem Zug aus und ging motiviert
zum Fass. Es konnte nicht schaden, erst einmal ein paar Bier
gegen die Schüchternheit zu trinken. In zahlreichen Selbstversuchen
hatte ich empirisch nachgewiesen, dass sich mein Charme erst
nach etwa 1,5 Litern Bier
voll entfaltete. Natürlich musste ich den Lall-Faktor
im Auge behalten, der sich je nach körperlicher Verfassung
ab dem dritten oder vierten Liter unweigerlich einstellte
und mich sehr unattraktiv machte.
Für das entspannte Einstimmen auf den Abend fand ich
in der Küche einen strategisch günstigsten Standort.
Von hier war ich nur zwei Schritte vom Fass entfernt, außerdem
hatte ich einen guten Überblick über das Geschehen.
Zwischen zapfen, trinken und rauchen, fand ich auch immer
wieder etwas Zeit mich mit Walter
zu unterhalten, dessen Stimmung sich schleichend aufhellte.
Die Anspannung merkte ich ihm noch immer deutlich an, aber
es tat ihm sichtlich gut, unter Menschen zu sein. Der Großteil
meiner Aufmerksamkeit galt allerdings der versammelten Weiblichkeit.
Ich ließ regelmäßig meinen Blick wandern
und versuchte mir einen ersten Eindruck über Alexandras
Freundinnen bzw. Bekannte zu verschaffen. Dabei achtete ich
in erster Linier darauf, wer von ihnen mit männlicher
Begleitung hier waren. Überrascht, aber zufrieden, stellte
ich fest, dass es nicht allzu viele waren. Meine Laune und
mein Charmepegel stiegen.
Bis etwa 23 Uhr widmete ich mich vorrangig dem Kampf gegen
meine Schüchternheit und nur zweitrangig der unverbindlichen
Kommunikation. Leider griff ich auch an diesem Abend wieder
die falschen Themen für einen netten, lockeren Plausch
auf. Aber da heute der 11.09. war, lag es doch nur allzu nahe
über Terror, den Irak-Krieg, George Walker Bush, die
kommenden Wahlen, Globalisierung und Politik im Großen
und Ganzen zu reden. Leider dachte nur ich so, denn meine
Ausführungen sorgten dafür, dass die Küche
von den anderen Gästen nur noch aufgesucht wurde, wenn
es unausweichlich und zweckmäßig war.
Als ich irgendwann leicht betrunken bzw. stark angetrunken
war, entspannte sich auch meine Zunge und war nun bereit für
witzige, geistreiche und charmante Gespräche. Ich zapfte
mir noch ein Kölsch
und ging dann rüber zur Sitzecke, wo auch schon Walter
saß, und suchte mir zwischen zwei Frauen einen Platz
auf dem Sofa. Wahrscheinlich ging ich dabei eher plump vor,
denn meine wohl erzogenen Hemmungen hatte der Alkohol in meiner
Blutbahn inzwischen weggespült.
Aber mein ungelenkes Verhalten fiel den beiden Frauen scheinbar
nicht weiter unangenehm auf, stattdessen begrüßten
sie mich in ihrer Mitte und bezogen mich in ihre Unterhaltung
mit ein. Per Zufall oder weil ich einfach dreist war, hatte
ich mir den besten Platz auf dem Sofa ergattert. Links und
rechts von mir saß je eine Frau. Walter
saß am rechten Ende des Sofas, so dass er nur noch mit
der Frau an meiner Rechten kommunizieren konnte. Ich widmete
mich währenddessen mit Feuereifer der Frau auf meiner
Linken.
Wir redeten, einfach und nett. Mittlerweile machte ich nicht
mehr den Fehler, die völlig falschen Themen anzuschneiden.
Eigentlich schnitt ich von mir aus gar keine Themen mehr an,
sondern reagierte nur noch. Ich nistete mich komfortablen
in der Defensive ein. Ich hörte zu, nickte oft mit dem
Kopf und gab meiner hübschen Gesprächspartnerin,
wann immer es angebracht war, Recht. Wir verstanden uns großartig,
machten Witze, alberten rum und flirteten.
Ich war wieder einmal in der Stimmung, dass ich knutschen
wollte. Wenn ich in dieser Stimmung war, war ich auch gerne
bereit mich zu verlieben. Ohne den Namen der Frau zu meiner
rechten Seite noch in Erinnerung zu haben, kniete ich nieder
und bat sie mich zu heiraten. Glücklicherweise reagierte
sie souverän und lachte, ohne tiefer auf meinen Antrag
einzugehen. Wir unterhielten uns weiterhin sehr nett und angeregt.
Sie verhielt sich großartig und ich fühlte mich
wohl. Während unseres weiteren Gesprächs dachte
ich allerdings nur noch an ihre Lippen und wie sie sich anfühlten.
Als sich ein paar Gäste aufmachten, um die Party zu
verlassen, sprang auch meine Gesprächspartnerin auf.
Sie verabschiedete sich bei mir und erklärte kurz und
sachlich, dass dies ihre Mitfahrgelegenheit wäre. Ich
bettelte noch halbherzig und bot ihr sogar an, ein späteres
Taxi für den Heimweg zu bezahlen. Sie lehnte milde lächelnd
ab und entschwand, ohne mir noch einmal ihren Namen oder ihre
Telefonnummer zu nennen.
Ohne nur eine Sekunde über diesen Rückschlag nachzudenken,
drehte ich mich um 180° und schenkte all meinen Charme
der Frau auf der anderen, meiner rechten Seite. Mein Interesse
und meine Aufmerksamkeit kippten augenblicklich von links
nach rechts und es geschah so beiläufig, als ob ich einer
Kippschalter drücken würde. Meine Gunst war uneingeschränkt
und auch mein Verlangen nach einem Kuss. So machte es mir
auch nichts mehr aus, meinem Freund Walter
in die Parade zu fahren. Selbstsüchtig riss ich das Gespräch
und die Aufmerksamkeit an mich. Die unbekannte Schönheit,
die noch eben angeregt mit Walter
gesprochen hatte, stieg tatsächlich auf meine vordergründige
Anmache ein.
Wir redeten angeregt miteinander und ich brachte sie immer
wieder zum Lachen. Dank meines exzessiv betriebenen Alkoholmissbrauchs
waren bei mir alle Schutzwälle eingerissen und ich plapperte
wie ein Wasserfall. Dabei streute ich immer wieder kleine
witzige Anekdoten ein, in denen ich als 'dummer August' vorkam.
'Du bist wie ausgewechselt!'
'Was meinst Du?'
'Eben in der Küche standest Du nur rum und bekamst die
Zähne nicht auseinander. Um ehrlich zu sein, ich dachte,
Du wärst ein Stinkstiefel.'
'Oh! Wow! Echt?'
'Ja, oh Wow, ganz in echt!'
'Du machst Dich über mich lustig. Denk bloß nicht,
ich würde das nicht mitbekommen. "Stinkstiefel"
habe ich ja schon verdammt lange nicht mehr gehört. Das
ist hart. Und was denkst Du jetzt über mich?'
'Ich denke, die Bierchen haben Dich ein bisschen lockerer
gemacht.'
'Ich habe doch gar nichts getrunken!'
'Genau!'
'Okay. Zugegeben, ich habe vielleicht schon drei oder vier
Gläser Kölsch
getrunken. Aber Kölsch hat ja nicht wirklich Alkohol,
das ist doch eher eine Limonade.'
'Du hast also einen Zuckerschock?'
'Ja! Genau! Das ist die Erklärung!'
'Wofür ist das eine Erklärung? Du machst mich ganz
wuschig! Ich weiß gar nicht mehr, was ich denken soll.'
'Du weißt nicht mehr, was Du denken sollst? Du tust
mir echt leid.'
'Ich bin verwirrt. Was willst Du mir sagen?'
'Jetzt bleib mal locker, ich nehme Dich doch nur auf die
Schüppe! Bist Du eigentlich immer so leicht zu verunsichern?'
'Ja. Nein! Eigentlich nicht. Ich habe wohl doch schon ein,
zwei Bier zuviel getrunken.
Ich stehe ein bisschen auf der Leitung. Ich brauche einen
Kaffee. Ich frag mal Alexandra, ob sie noch einen machen kann.
In der Küche steht doch diese schicke Espressomaschine.
Willst Du auch einen oder vielleicht etwas anderes?'
'Du willst jetzt noch einen Kaffee? Es ist nach zwei!'
'Na und? Kaffee passt immer. Es gibt überhaupt gar keine
Zeit, keinen Ort und keine Gelegenheit, zu der Kaffee nicht
passen würde.'
'Du magst Kaffee wirklich sehr?'
'Ja, Du nicht?'
'Nicht so wie Du! Ich trinke morgens gerne eine Tasse und
vielleicht noch eine am Nachmittag, aber ich käme nie
auf die Idee, jetzt noch einen Kaffee zu trinken.'
'Okay, Du möchtest also keinen Kaffee. Kann ich Dir
sonst etwas holen.'
'Ja, ich hätte gerne noch ein Bier.
Hol Dir auch noch eins. Ich finde es eigentlich ganz sexy,
dass Du ein wenig neben der Spur bist. Ich habe etwas Angst
davor, dass Du durch den Koffein-Kick wieder zu diesem faden
Stinkstiefel wirst. Das brauche ich jetzt echt nicht.'
'Hören heißt gehorchen! Bin gleich wieder da.'
Ich sprang von dem Sofa auf, schnappte mir die Gläser
und schritt mit forschem Schritt zum Bierfass. Meine Motorik
war erstaunlicherweise zackig, unauffällig normal und
präzise. Mein Körper war auf Autopilot geschaltet
und spulte sein Programm fehlerfrei ab, ohne einen Hinweis
auf meinen desolaten Zustand zu liefern. Wenige Augenblicke
später kehrte ich mit zwei frisch gezapften Kölsch
zurück zu der Frau auf dem Sofa.
'Was war das den eben für ein Spruch?'
'Was meinst Du?'
'Hören heißt gehorchen?'
'Ja, natürlich. Jetzt aber erst mal: Prost! Auf Dich!
Schön, dass Du heute hier bist und ich Dich getroffen
habe!'
'Prost, Du schamloser Charmebolzen!'
'Du, wo wir uns gerade so gut verstehen, darf ich Dir vielleicht
eine persönliche Frage stellen?'
'Frag einfach, aber vielleicht antworte ich Dir nicht ehrlich.'
'Ehrlichkeit ist aber Grundvoraussetzung. Wenn Du nicht ehrlich
antworten magst, dann verweigere einfach die Aussage. Aber
bitte lüg mich nicht an.'
'Ehrlichkeit ist Dir wirklich so wichtig? Das kann ich kaum
glauben, Du erzählst doch die ganze Zeit nur wilde Geschichten,
die Du Dir spontan ausgedacht hast. Mit der Wahrheit nimmst
Du es doch selber nicht so genau!'
'Doch! Ich würde nie lügen, wenn es wichtig ist.
Und Gefühle sind wahrhaftig.'
'Okay, was willst Du mich fragen?'
'Die Frage scheint Dir jetzt, nachdem wir so wahnsinnig ernsthaft
waren, lächerlich erscheinen, aber ich meine es trotzdem
ernst. Ich liebe Gitarrenmusik. Auch Folk, wo nur eine Wandergitarre
gespielt wird. Und meine abartigste Leidenschaft gilt der
Country-Musik. Nun meine Frage: Wie denkst Du über Country-Musik?'
'Das ist deine "persönliche" Frage? Man, ich
habe weiß Gott was erwartet! Aber bestimmt nicht das.'
'Und? Wie lautet Deine Antwort?'
'Ich mag Country! Ich habe eine CD von John Denver. Und ich
mag Johnny Cash.'
'Du, ich würde Dir gerne noch eine Frage stellen.'
'Ja?'
'Bitte, heirate mich!'
'Das ist keine Frage! Und Du bist echt verrückt! Hast
Du nicht noch eben einer anderen Frau einen Antrag gemacht?
Und jetzt mir? Deine Anträge sind sehr inflationär!
Damit steigerst Du nicht unbedingt Deinen Marktwert.'
'Ich wiederhole die Frage gerne noch einmal, denn Du bist
mir eine Antwort schuldig geblieben: Möchtest Du mich
heiraten?'
'Ich denke, Du und ich sollten über diese Frage noch
einmal eine Nacht schlafen. Vielleicht rufst Du mich ja mal
an. Vielleicht treffen wir uns ja mal auf einen Kaffee. Und
vielleicht stellst Du mir irgendwann noch einmal diese Frage.
Und dann denke ich ernsthaft darüber nach.'
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