Frauen, Bier und Zigaretten
Ich hatte die letzten Nächte wieder mehr wach als schlafend
verbracht. Genauso fühlte ich mich auch. Ich war müde,
unkonzentriert und leicht reizbar. Meine Muskeln taten mir
weh und wollten mir nicht mehr gehorchen. Auf meiner Haut
spürte ich ein Stechen, wie von 1000 Nadeln.
Ich nahm meinen schleichenden körperlichen Verfall mit
einer Gelassenheit wahr, die schon an Ignoranz grenzte. Was
mich aber wirklich beunruhigte war meine eingeschränkte
geistige Verfassung. Wenn mir mal ein erwähnenswerter
Gedanke kam, dann kroch er so langsam wie eine Schildkröte
in mein Bewusstsein, wo er auch direkt wieder verpuffte. Irgendwann,
ich wusste nicht wann, wahrscheinlich hatte ich geschlafen,
wurde mir mein Gehirn amputiert und durch Vanillepudding ersetzt.
Der unfreiwillige Schlafentzug bekam mir nicht, das spürte
ich noch gerade instinktiv. Ich brauchte also mehr Schlaf
und zwar ganz dringend. Tiefen, ruhigen, glücklichen,
kindlichen Schlaf. Nur eine Nacht - das wäre schon wunderbar.
Es gab nur noch eine Lösung, die moderne Pharmazie.
Ich ging in die nächste Apotheke und bettelte um Drogen,
die mir und meiner Seele endlich mal eine kurze erholsame
Auszeit ermöglichen würden. Ich würde auch
gerne diverse Nebenwirkungen in Kauf nehmen, wenn ich nur
endlich mal wieder eine einzige Nacht durchschlafen könnte,
erklärte ich der überforderten Apothekerin.
'Bitte! Bitte, geben sie mir etwas! Irgendetwas! Ich will
nur endlich wieder schlafen!'
'Ich kann Ihnen nicht so einfach verschreibungspflichtige
Medikamente aushändigen. Ohne Rezept ist das nicht möglich.
Sprechen Sie mit einem Arzt. Ansonsten empfehle ich ihnen
Baldrian-Dragees.'
'Baldrian ist für Kinder. Ich brauche schon etwas Härteres!
Ich werde mich später um ein ärztliches Rezept kümmern,
aber ich brauche jetzt Hilfe. Gucken Sie mich an! Ich brauche
eine Auszeit. Geben Sie mir Lidocaine. Oder Opium. Morphium.
Valium. Mir egal. Bitte, sorgen Sie nur dafür, dass ich
wieder schlafen kann.'
'Sie machen mir Angst. Bitte, gehen Sie! Ich kann Ihnen leider
nicht weiterhelfen. Bitte, verlassen Sie unsere Apotheke.'
'Ich mache Ihnen Angst? Sie wissen doch gar nicht, was echte
Angst ist. Ich kenne echte Angst! Ich muss nämlich bei
vollem Bewusstsein miterleben, wie ich meinen Verstand verliere.
Ich schlafe bestenfalls noch zwei Stunden pro Nacht. Und wenn
ich dann endlich schlafe, dann träume ich verrücktes
Zeug. Ich träume beispielsweise, dass mir beim Duschen
alle Zähne und auch noch die Finger- und Fussnägel
ausfallen. Na, gute Frau, haben Sie jetzt eine Ahnung, was
Angst ist?'
'Ich bitte Sie, gehen Sie! Ich muss sonst die Polizei oder
besser noch einen Irrenarzt rufen.'
Da ich weder das Bedürfnis nach einer wortreichen und
komplizierten Auseinandersetzung mit der Polizei, noch nach
einem langwierigen Besuch in einer (geschlossenen) psychiatrischen
Klinik verspürte, stürmte ich fluchtartig aus der
Apotheke auf die Straße. Ich rannte. Runter zum Fluss
und immer weiter. Ich rannte, als ob ein Dutzend Bluthunde
hinter mir her wären.
Ich rannte, trotz aller Müdigkeit. Bereits nach wenigen
100 Metern setzten Seitenstiche ein, die ich ignorierte, schleißlich
war ich ein harter Kerl. Ebenso ignorierte ich die Schmerzen
in meinen Füßen. Meine Schuhe waren für diese
Art der Beanspruchung gänzlich ungeeignet. Ich rannte,
wie 'Lola'. Immer weiter. Ich flog an der Umgebung vorbei
bzw. die Umgebung flog an mir vorbei - Relativitätstheorie.
Ich ließ den Fluss hinter mir. Wiesen. Bäume. Autos.
Menschen.
Ich hatte kein Auge für die abwechlungsreiche Umbebung.
Ich mußte rennen. Nur rennen. Immer schneller. Immer
weiter.
Ich war nahe der vollkommenen Erschöpfung, als ich
diese Frau zufällig erblickte. Sie stand einfach nur
da. Angelehnt an einem Maschendrahtzaun. Ganz alleine. Sie
trank aus einer Flasche Bier und saugte lasziv an einer Zigarette.
War sie real? Oder bildete ich sie mir nur ein? In letzter
Zeit gab es genug Gründe, an meiner Wahrnehmung bzw.
an meinem Verstand zu zweifeln. Was wäre aber, wenn ich
nicht einer Halluzination unterlegen wäre? Ergäbe
das nicht wunderbare Möglichkeiten?
Ich sackte in mich zusammen und schlief auf der Stelle erschöpft
ein.
'Novovaine For The Soul' by Eels (1996)
Life is hard and so am I
You better give me something
So I don’t die
Novocaine for the soul
Before I sputter out
Life is white and I am black
Jesus and his lawyer
Are coming back
Oh my darling will you be here
Before I sputter out
Guess who’s living here
With the great undead
This paint by number’s life is fucking with my head
Once again
Life is good and I feel great
’cause mother says I was
A great mistake
Novovaine for the soul
You better give me something
To fill the hole
Before I sputter out
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