Immer wieder Sonntags
'Sonntag, Deine Name ist Schmerz', war mein erster Gedanke,
als ich aus einem komatösen traumlosen Schlaf viel zu
früh aufwachte. Die üblichen Folgeerscheinungen
einer durchzechten Nacht hatten sich wieder bei mir eingefunden:
Supernova im Kopf, Pelztierzucht im Mund, Karussell im Magen,
Erdbeben in den Extremitäten, überfrierende Nässe
auf der Haut und eine von Metastasen zerfressenes Seele.
Als ich aufwachte, brannte mir die penetrant grünleuchtende
Anzeige des Radioweckers rechts auf meinem Nachttisch die
aktuelle Uhrzeit auf die Netzhaut: 10:22. Ich hatte gerade
einmal fünf Stunden geschlafen und es fühlte sich
nach deutlich weniger an.
Meine Batterien waren leer. Ich fühlte mich total ausgelaugt
und so verloren, wie eine ausgemusterte Matratze auf dem Sperrmüll.
Neben den nur zu gut bekannten Katersymptomen quälte
mich noch ein ganz anderer Schmerz. Mein linker Oberschenkel
pochte und brannte, dass es mir die Tränen in die Augen
trieb.
Ich schlug die Bettdecke zurück und blickte an mir herunter.
Ich erschrak. Das erste, was ich sah, waren dunkelbraunrote
Flecken auf dem Bettbezug. Getrocknetes Blut. Mein Blick wanderte
weiter. Dann sah ich mein aufgeschürftes linkes Bein.
Die Haut war um das Knie völlig weggerissen und ich hatte
einen freien Blick aufs blutige Fleisch lag. Die Wunde war
etwa handgroß und noch frisch und feucht. Der Anblick
war entsetzlich. In mir stieg Übelkeit auf. Ich unterdrückte
all meine Gefühle und hüpfte einbeinig zur Hausapotheke,
auf der Suche nach Jod, Wundpuder und Mullbinden.
Meine Hausapotheke, eine Schublade in der Küche, enthielt
allerlei Tabletten gegen Kopfschmerzen, Grippesymptome, Durchfall
und ähnliche kleinere Erkrankungen, aber leider kein
Jod. Inspiriert durch hunderte alte Western-Filme und noch
leicht benebelt vom Restalkohol, humpelte ich ins Wohnzimmer
zur hauseigenen Mini-Bar. Ich überflog kurz meinen Bestand,
auf der Suche nach dem höchstprozentigstem Alkohol. Ich
stieß auf eine Flasche blauen Smirnoff mit 50% Vol Alkohol.
'Nun gut, dann muss eben der gute Wodka als Desinfektionsmittel
herhalten!', dachte ich und ging ins Badezimmer. Dort hatte
ich in meinem alten Alibert-Möbel aus den 70ern einen
grünen Erste-Hilfe-Kasten, wie man ihn üblicherweise
in Autos vorfindet, verstaut. So hatte ich zumindest etwas
Wundpuder und auch ein paar Mullverband.
Ich streckte mein linkes Bein in die Dusche. Ich öffnete
die Wodkaflasche, nicht ohne mir vorher noch einmal die Bilder
aus den alten Western-Filmen über die korrekte Behandlungsmethode
von Schussverletzungen ins Gedächtnis zu rufen. Zugegeben,
ich hatte keine Schussverletzung, aber Wunde war Wunde, warum
sollte es also nicht funktionieren?
Ich atmete lang und tief durch. Einmal. Zweimal. Dreimal.
Dann setzte ich die Flasche ruckartig an den Mund und nahm
einen kräftigen Schluck. Der zimmerwarme Wodka schmeckte
grässlich und ich musste mich schütteln. Dann goss
ich den Alkohol auf und in meine Wunde. Der Schmerz, ein Brennen
und Stechen, war so überraschend gewaltig, dass ich augenblicklich
ungedämpft aufschreien musste. Ich schrie und schrie
und weinte. Dann sank ich in mich zusammen und kauerte auf
dem kalten Kachelboden. Als die Schreie längst verstummt
waren, weinte ich noch immer.
Als ich meine Fassung einigermaßen wieder gefunden
hatte, versorgte ich die Wunde mit Puder und verband sie mit
Mullbinden. Zitternd ging ich in die Küche, wobei ich
darauf achtete, das linke Bein möglichst ruhig zu halten
und wenig zu belasten. Ich machte mir einen Kaffee.
Während die Kaffeemaschine prustend ihre Arbeit verrichtete,
ging ich noch einmal zurück ins Bad, um mir die Zähne
zu putzen und abschließend noch mit Odol nachzuspülen.
Dabei dachte ich wieder an die alten Western-Filme und ihre
Helden. Die Cowboys, aus der längst vergangenen guten
alten Zeit, waren aus einem ganz anderen Holz geschnitzt als
ich. Die goutierten einen Bauchschuss aller höchstens
mit einem süffisanten Lächeln und einem sarkastischen
Witz. Die würden nie unter Tränen zusammenbrechen.
Niemals.
Ich kehrte zurück in die Küche und schenkte mir
einen Kaffee ein. Dann ging ich ins Wohnzimmer und setzte
mich aufs Sofa. Erst jetzt entzündete ich mir eine Marlboro,
allerdings ohne mich wie ein Cowboy zu fühlen.
Ich dachte nach. Sollte ich wegen der Verletzung noch zu
einem Arzt gehen. Meine letzte Tetanus-Impfung lag noch nicht
allzu lange zurück, darüber brauchte ich mir also
keine weiteren Sorgen machen. Ich würde erst mal abwarten.
Morgen konnte ich mir immer noch Jod in einer Apotheke kaufen.
Woher aber stammte die Wunde? Wie und wo hatte ich mich so
verletzen können. Ich starrte in den Raum, starrte auf
meine achtlos verteilten Klamotten, die Hose, den Pulli, das
T-Shirt, die Socken und die Schuhe. Aber das alles sagte mir
nichts, weckte keinerlei Erinnerung in mir.
Ich saß einfach nur dumpf da, rauchte eine Zigarette
nach der anderen und nippte an meinem ganz allmählig
auskühlendem Kaffee. Gerne hätte ich die penetrante
Stille mit Musik verscheucht, aber der Weg zur Hi-Fi Anlage
erschien mir als zu beschwerlich und außerdem hätte
ich eh nicht gewußt, was ich in diesem Moment hätte
hören wollen.
Um exakt 12:00 Uhr klingelte das Telefon. Ich saß weiterhin
entspannt da und lauschte dem elektronischen Klingelton, den
ich unter normalen Umständen als nervig empfunden hätte.
Aber jetzt gerade störte er mich überhaupt nicht.
Ich hörte ihm gelassen zu und wartete darauf, dass der
Anrufbeantworter anspringen würde. Aber genau das tat
er nicht. Das Signal des Telefons schrillte immer weiter.
Ich rappelte mich dann doch irgendwann auf und suchte den
Hörer. Den fand ich auf dem Fußboden neben dem
Kopfende meines Betts im Schlafzimmer.
'Wer stört mitten am Tag?'
'Hank, alles klar bei Dir?'
'Ach Du bist es. Hi Jeff. Nö! Irgendwie nicht wirklich.'
'Erzähl! Was war los? Du warst gestern so plötzlich
weg. Du sagtest, Du wolltest pissen gehen. Aber dann habe
ich Dich nicht mehr gesehen. Du warst einfach weg. Ohne Tschüß
zu sagen. Und dann habe ich heute morgen diesen seltsamen
Anruf von Dir auf meinem AB entdeckt. Aber Mann, Du warst
ja so voll oder was, ich habe von Deinem Gestammel echt kein
Wort verstanden.'
Danke! Danke, Jeff! Da war er also! Der Anhaltspunkt, den
ich brauchte, um die vergangene Nacht Schritt für Schritt
zu rekonstruieren. Alles fing damit an, dass Jeff und ich
uns aus der Ratinger trafen, Bier tranken und durch die Altstadt
zogen. Der Nebel des Vergessens verzog sich schlagartig und
ich konnte mich auf einmal wieder an alles erinnern.
'Ja, tut mir echt leid. Das ist keine Art. Bist Du denn gut
nach Hause gekommen?'
'Ja! Nachdem Du plötzlich verschwunden warst, habe ich
noch mein Bier in Ruhe ausgetrunken und bin dann nach Hause
gefahren. Die anderen sind noch in DIE MAUER gegangen, aber
das war mir zu hart. Aber sag schon, was hast Du gemacht?
Warst Du wieder im NIGHT-LIFE, um eine geile Frau mit Zungenpiercing
klarzumachen?'
'Totaler Quatsch! Ist zwar ein verführerischer Gedanke,
aber leider Lichtjahre von der Realität entfernt. Ich
ging tatsächlich nur um die Ecke, um mir Erleichterung
zu verschaffen. Aber als ich so dastand, meinen kleinen Hank
ausgepackte und durch das Gitter die Pflanzen wässerte,
schlug auf einmal ganz gewaltig die Alkoholkeule zu und ich
fiel einfach, wie ein gefällter Baum, um. Auf einmal
lag ich also regungslos auf dem kalten dreckigen Straßenboden
mit offener Hose in meiner eigenen Pisse. Ich war zwar total
besoffen, aber nicht so besoffen, um nicht zu merken, dass
ich die Kontrolle verloren hatte. Für mich gab es nur
noch eine Rettung und zwar mein Bett. Ich versuchte mich zusammenzureißen
und schwang mich auf mein Hollandrad. Ich trat in die Pedale,
aber ich kam nicht mal 500 Meter weit, denn ich übersah
eine Absperrung. Ohne den Versuch eines Ausweichmanövers
raste ich mitten auf diese massive Kette zu. Ich machte mich
lang, flog über den Fahrradlenker und rutschte über
den Asphalt. Vier nachgeborene Punks, alle bestenfalls so
um die 20 Jahre, wahrscheinlich noch jünger, nahmen sich
meiner an. Sie halfen mir auf die Füße, ketteten
mein Fahrrad an und setzten mich in ein Taxi, das sie auch
noch bezahlten. Sehr nette junge Menschen, auch wenn sie modisch
leicht verwirrt waren.'
'Harter Trip. Und, wie geht es Dir heute?'
'Scheiße! Hab mir am linken Bein ganz schön weh
getan. Aber der Abend war doch irgendwie cool! Oder? Ich weiß
es einfach nicht mehr so genau...'
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