Victorias Geheimnis
Das Leben, oder sollte ich sagen, das Überleben, in
den eigenen vier Wänden war auch nicht der Himmel. Ich
vermisste das Krankenhausessen. Ganz ehrlich, es war gar nicht
mal schlecht. Aber wenigstens gab es etwas zu Essen. Jetzt
musste ich mich selber darum kümmern. Ich wollte nicht.
Ich fühlte mich nicht.
Ich saß mutterseelenallein auf meinem Sofa, trank Kaffee,
rauchte und fühlte mich elend, außerdem hatte ich
Hunger. Die Zeit wurde mir lang. Ich hatte nichts zu tun,
außer mich zu schonen, was ja bedeutet, nichts zu tun.
Ich beobachtete minutenlang, wie der blaugraue Rauch sich
aus der Glut meiner Marlboro löste, pumpend empor stieg,
zuckte und tanzte, dann verwirbelte, um kleine Wölkchen
zu bildeten und sich schließlich in Schwaden schichtete,
die sich in der Tiefe des Raums auflösten.
Um meine wissenschaftlichen Beobachtungen nicht zu unterbrechen,
ließ ich die Zigarette im Aschenbecher vergehen. Erst
als die Glut den Filter erreicht hatte und es anfing unangenehm
zu riechen, schritt ich ein. Ich drückte den Stummel
aus und verbrannte mir dabei den Daumen. Normalerweise hätte
ich die Verbrennung umgehend mit etwas Kaltem aus dem Gefrierfach
behandelt, aber ich war zu lethargisch. Ich blieb sitzen.
Es war mir einfach egal.
Ich starrte in den Raum. Mein Blick wanderte über den
Tisch zum Fenster in den Himmel und noch weiter, immer weiter,
bis in die Unendlichkeit. Ich verlor mich. Ich begann zu grübeln.
Über mich. Über verspielte Möglichkeiten. Ich
war gerade dabei, mich in meinem Selbstmitleid aufzulösen,
da schellte die Türklingel.
Ich ignorierte das Klingeln, wie ich auch schon vorher erfolgreich
die Brandblase an meinem Daumen ignoriert hatte. Ich blieb
stur auf meinem Arsch sitzen. Ich wollte nichts mit der Welt
zu tun haben. Es war mir alles zu viel.
Das Klingeln hörte nicht auf. Im Gegenteil. Die Frequenz
nahm permanent zu. Es wurde unerträglich. Ich spürte,
wie sich der nervtötende Klingelton seinen Weg durch
meinen Gehörgang mitten in mein Hirn bohrte, nur um dort
von einer Hirnhälfte zur nächsten zu schallen und
zu einem gigantischen Getöse anzuwachsen.
Das Chaos aus Tönen zwang mich buchstäblich in
die Knie. Dann sprang ich auf und eilte zur Wohnungstür
und drückte den Öffner, um das lärmende Inferno
in meinem Kopf zu beenden.
Ich verschanzte mich hinter der Wohnungstür. Ich machte
eine schnelle Bewegung und drehte mich rücklings gegen
die Tür. Meine Oberschenkel spannten sich und drückten
meinen Oberkörper fest gegen die Tür. So verharrte
ich, unsicher, was ich als nächstes tun würde.
Zäh vergingen die Sekunden, ohne dass sich etwas tat.
Meine Wohnung lag im vierten Stock, diese Distanz musste jeder
Besucher überwinden. Ich sank währenddessen in mich
zusammen und hockte mit dem Rücken gegen die Tür
am Boden. Ich spürte das Blut durch meinen Körper
rauschen.
Es klopfte zaghaft an die Tür. Ich rührte mich
nicht. Augenblicke vergingen. Stille. Ich wartete ab. Wieder
klopfen, diesmal etwas energischer. Gefolgt von Stille. Ich
verharrte in der Deckung. Plötzlich schrillte die Klingel
los, und ich wusste, ich konnte nicht entkommen.
Ich krabbelte lautlos auf allen Vieren ins Bad, drückte
die Spülung, richtete mich auf und ging zurück zur
Wohnungstür. Ich atmete tief durch, dann öffnete
ich.
Ich erschrak. Meine Knie wurden weich und ich begann augenblicklich
an zu Schwitzen. Im Treppenhaus vor meiner Tür stand
Julia. Damit hatte ich nicht gerechnet. Warum hatte ich Idiot
nicht durch den Türspion geguckt? Mir wurde schwindelig.
'Hey! Entschuldige die Verzögerung, ich war auf der
Toilette!', ich warf einen bedeutungsschwangeren Blick Richtung
Badezimmer. 'Mit Besuch hatte ich auch überhaupt nicht
gerechnet.', sagte ich und dachte: 'Mit Deinem Besuch hätte
ich nie und nimmer gerechnet. Du machst mich fertig. Und das,
wo ich doch eh schon am Ende bin.'
Ich machte eine unbeholfene Handbewegung, die eigentlich
einladend sein wollte. 'Schön Dich zu sehen! Komm doch
rein!', sagte ich mit flatteriger Stimme.
Julia trat ein, nahm mich in den Arm, drückte mich und
säuselte: 'Hallo! Wie geht es Dir?'
Ich genoss ihre Umarmung und badete in dem Duft ihres Parfüms.
Als sie mich wieder los ließ, kickte ich lässig
die Tür zu. Wir standen uns gegenüber und ich war
peinlich berührt.
'Möchtest Du etwas trinken? Ich kann uns einen Kaffee
kochen.'
Sie guckte mich musternd mit ihren großen strahlenden
Augen an, dann sagte sie lachend: 'Kaffee? Du Süchtel!
Ist das denn gut für Dich?'
'Was meinst Du? Kaffee ist immer gut! Für jeden! Die
Welt wäre viel besser, wenn alle mehr Kaffee trinken
würden. Von den großen Tee-Kriegen hat man schon
gehört. Aber Kaffee-Kriege? Gab's nie! Und genau deshalb,
sage ich, trinkt Kaffee! Immer und überall! Ich koch
uns mal einen.', sagte ich augenzwinkernd, ließ Julia
alleine zurück und verschwand in der Küche.
Julia kannte meine Wohnung. Sie ging ins Wohnzimmer und setze
sich aufs Sofa. Nach wenigen Minuten folgte ich ihr.
'Der Kaffee läuft. Wir müssen uns noch etwas gedulden!'
'Hank, was ist mit Dir los?'
'Gar nichts!'
'Gar nichts?', wiederholte Julia ironisch vorwurfsvoll. 'Du
bist hyperaktiv und lenkst permanent ab. Andere würden
Dich wahrscheinlich für cool halten, aber ich nicht.
Dafür kenne ich Dich dann doch ein bisschen zu gut.'
'Du hast den totalen Durchblick, was? Du kennst mich? Du
weißt alles!'
Julia blieb entspannt und lächelte. Ich nicht. Ich war
sauer. Vielleicht sogar wütend. Worauf? Wusste ich nicht.
Vielleicht auf Julia. Weil sie so gut aussah. Weil sie so
strahlte.
'Ich glaube, der Kaffee ist fertig. Ich hol uns mal einen.
Du trinkst ihn mit Milch und ohne Zucker, wenn ich mich recht
erinnere. Bei Kaffee irre ich selten!'
'Du irrst nicht. Aber mal was anderes, wie geht es Dir? Ich
weiß von Deiner OP!'
'Du weißt von meiner OP? Woher?'
'Woher ich es weiß? Ist doch total schnuppe? Ich hab
irgendwo davon gehört. Und deshalb bin ich hier und statte
Dir einen Krankenbesuch ab.'
Julia sagte tatsächlich 'total schnuppe'. Diesen Ausdruck
hatte ich seit meiner Kindheit nicht mehr gehört, jedenfalls
konnte ich mich nicht mehr daran erinnern. Sie benutze ihn
wie selbstverständlich und ihre Nase kräuselte sich
ein wenig. Sie sah dabei unglaublich sexy aus.
'Ach so, Mitleid hat Dich zu mir getrieben. Brauch ich nicht.
Kann ich drauf verzichten. Ich scheiß drauf! Hörst
Du?'
'Hank, Du bist bitter und Deine Stimmung ist nur sehr schwer
zu ertragen...'
Ich viel ihr ins Wort: 'Dann hau doch ab! Keiner zwingt Dich
hier zu sein. Habe ich dich gefesselt? Nein! Also! Du weißt,
wo die Tür ist. Ich halte Dich nicht auf!'
Ich erschrak über meine Worte, denn ich dachte ganz
anders. Ich dachte: 'Bitte bleib bei mir. Für immer.'
Aber das sagte ich nicht. Ich beobachtete Julia. Sie ging
nicht. Sie blieb sitzen. Aber das Lächeln war aus ihrem
Gesicht gewichen. Sie sah traurig aus.
'Du bist so ein Arschloch! Warum eigentlich? Warum zu mir?
Ich kenne Dich doch auch anders. Ich dachte, sie hätten
Dir eine Niere entfernt, aber ganz offensichtlich war es das
Herz.'
'Julia, ich will mich nicht entschuldigen, Du weißt,
das liegt mir nicht. Aber mir wurde eine Niere entfernt, das
ist keine Kleinigkeit. Ich fühle mich nicht sonderlich
und ich habe Angst. Das verunsichert mich. Damit kann ich
nicht umgehen.'
'Ich weiß! Nur deshalb bin ich noch hier. Aber Du machst
es mir wirklich nicht leicht, wenn Du so bist.'
Julia guckte mir tief in die Augen. Sie war wunderbar. Ich
hielt es nicht aus. Ich senkte meinen Blick. Vor Unsicherheit.
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich schwieg. Die Stille
war unerträglich. Ich wünschte mich woanders hin,
in Julias Arme.
'Ich habe Dir ein kleines Geschenk mitgebracht. Ich hatte
leider keine Zeit es einzupacken. Augen zu und Hände
ausgestreckt.'
Ich machte die Augen zu und streckte die Arme aus. Julia
legte etwas in meine Hände. Ich war mir sofort sicher,
es war eine CD. Aber welche?
'Es ist eine CD, oder? Darf ich jetzt wieder die Augen öffnen?'
'Aber nur, wenn Du versprichst, Dich ganz doll zu freue.'
'So was kann man nicht versprechen. Aber ich freue mich schon
jetzt!'
Ich öffnete meine Augen:
Ich hielt eine CD von Bob Dylan in meinen Händen. Nicht
irgendeine Dylan-CD. Es handelte sich um eine spezielle Kompilation
für die exquisite Unterwäschenmarke Victoria´s
Secrets. Unbezahlbar, weil nicht käuflich zu
erwerben. Eine echte Rarität.
Victoria´s Secrets. Komischer Name, dachte ich. Aber
eigentlich waren mir Victorias Geheimnisse 'total schnuppe'.
Welche Geheimnisse hatte Julia? Warum war sie hier? Warum
ertrag sie meine Gemeinheiten. Warum machte sie mir Geschenke?
Warum war sie so wunderbar?
Frauen und Geheimnisse. Zu viel für mich, ich blickte
nicht durch...
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