Verguckt
Das Leben ist ein langer ruhiger Fluss, sagt man. Fluss
und lang geht völlig in Ordnung. Aber ruhig? Mein Leben
ist eine Achterbahnfahrt. Schnell! Kurvig! Und mit Hochs und
Tiefs!
Als ich heute Morgen aufwachte, hatte ich einen leichten
Kater vom gestrigen Sake. Ich
litt unter einem unterschwelligen Unwohlsein, dass mir aber
nicht die Stimmung verdarb. Mich aber in meinen Gedanken und
Aktionen ein wenig ausbremste.
So richtig habe ich mich in meiner neuen Wohnung noch nicht
eingefunden. Ich kämpfte noch immer mit massiven Orientierungsschwierigkeiten.
Heute Morgen war es so schlimm, dass ich gedankenlos in das
Spülbecken der Küche urinierte.
Als ich realisierte, was ich da an einem dafür unpassenden
Ort tat, schrieb ich mir in Gedanken eine Entschuldigung:
Schlafwandeln
Tag für Tag gewinne ich dieser Wohnung immer mehr ab
und Tag für Tag nimmt diese Wohnung immer mehr meinen
Charakter an.
Und es wird sicher nicht mehr lange dauern, bis ich traumwandlerisch
den Weg zur Toilette finden werde. Bruce
ist schließlich auch schon stubenrein.
Der gestrige Tag hatte ein echtes Highlight!
Ich habe wieder einmal eine tolle Frau erblickt. Sie saß
in dem gleichen Café, in dem ich gemütlich eine
Zeitung las. Sie saß einfach nur da und sah bezaubernd
aus. Und ich konnte meinen Blick nicht mehr abwenden.
So etwas passiert mir recht häufig und ist eigentlich
auch nicht weiter erwähnenswert, aber diesmal habe ich
sie angesprochen. Wenn man ernsthaft eine Frau sucht, muss
man auch schon mal die Initiative ergreifen.
Durch irgendeine sinnentleerte Banalität verwickelte
ich sie in ein Gespräch. Meine überschwängliche
Präsenz und meine aufdringliche Penetranz ließen
ihr gerade mal soviel Raum, um zu atmen und dieses Spiel nach
meinen Regeln mitzuspielen.
Wir unterhielten uns nur über belanglose Nichtigkeiten.
Aber mir bot diese Blase aus unverbindlichen Oberflächlichkeiten
die Gelegenheit in ihrer Nähe zu sein. Ich konnte ihr
Parfüm riechen. Ich konnte die neckischen Falten um ihre
Nase bewundern, wenn sie lachte. Ich konnte das Strahlen in
ihren Augen erblicken, wenn sie einen weiteren Kaffee bestellte.
Ich konnte ihre langen schlanken Finger mustern. Und wie sie
die Tasse hielt.
In diesen kurzen Momenten hörte die Welt auf, sich zu
drehen!
Als sie ging, sagte sie: 'Bis nächste Woche!'
Bis nächste Woche! Diese drei
Worte entflammten meine Phantasie. Aber vor allem weckten
sie meine Hoffnungen. Ich beschloss, dass ich genau hier jeden
Tag auf sie warten würde - egal wie lange!
Und vielleicht würde ich ja auch dann ihren Namen erfahren.
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